Q – Eine Novelle
96 Seiten, 22 × 22 cm
Hardcover, Fadenheftung
Mit S/W-Illustrationen des Autors
Privatdruck, August 2021
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Textauszug:
In der Nacht regnet es heftig. Sintflutartig trommeln die Tropfen auf das Bootsdeck. Gegen acht Uhr öffne ich die Luke und steige die paar Stufen hinauf ins Cockpit, in dem Dutzende Liter Wasser umherschwappen. Die Wetterverschlechterung hat das Land und das Meer mit dunklen Wolkenplatten überdacht. Bisher klarte der Himmel bis zum Mittag immer wieder auf. Heute sieht es eher danach aus, als habe der Regen ein länger anhaltendes Tiefdruckgebiet mit sich gebracht, denn auch die Lufttemperatur ist gesunken. Ich schaue zum nahen Strand. Die bunte Reihe der Fischerboote hat heute Morgen Lücken. Die Fischer des Dorfes sind beim Fang. Und auch der Katamaran von Gyn und Maly ist fort. Schade! Sind wohl noch in der Nacht losgesegelt? Bei dem Regen? Ich mache mir ein wenig Sorgen.
Vladin erwähnt den Besuch bei Gyn und Maly mit keiner Silbe; ich auch nicht. Mit der Kaffeetasse in der Hand nimmt er die Seekarte aus dem Regal und breitet sie auf dem Kartentisch aus; die Skizze seines Großvaters legt er dazu. Mit einem Bleistift zeigt er auf einen winzigen Punkt in der Karte.
Wir sind hier. Die Insel, nach der wir suchen, muss in diesem Gebiet sein. Vladin umkreist dabei die Region, ohne die Karte zu berühren. Aber hier scheint, außer ein paar winziger Korallenriffe, nichts zu sein, fügt er nachdenklich an.
Ich vergleiche die offizielle Schifffahrtskarte mit der Skizze seines Großvaters. An einer Stelle meine ich, eine Übereinstimmung zu erkennen.
Aber hier, sieht das nicht so aus aus wie auf Opas Karte?, sage ich zu Vladin. Zugegeben, ein wenig Fantasie gehört dazu, aber die handgezeichneten Konturen ähneln einer Inselgruppe auf der Seekarte. Sie befindet sich nördlich unseres jetzigen Standorts. Nicht sehr weit entfernt, vielleicht zwei Segeltage.
Vladin beugt sich über die Karten und vergleicht ebenfalls. Er nickt zustimmend und sagt, als wüsste er es längst: Dann lass uns aufbrechen. Wenig später füllt eine ordentliche Brise unsere Segel und zieht uns auf die offene See hinaus. Draußen wabert eine ungemütliche Dünung als Hinterlassenschaft des nächtlichen Unwetters. Trotz der stabilen Lage durch die zwei Rümpfe rollt der Kat in den Wellen hin und her. Mir ist übel, ich könnte kotzen.
Den ganzen Tag segeln wir mit schwachem Wind und ohne irgendwo Land zu sichten. Erst mit dem letzten Tageslicht taucht eine Insel auf, die etwa auf halber Wegstrecke zu unserem Zielgebiet liegen muss. Glücklicherweise hat sie einen richtigen Hafen mit einem soliden Betonsteg, der es uns gerade jetzt bei Dunkelheit erleichtert, sicher anzulegen. Auch hier sind wir nicht die einzigen Gäste. Ganz und gar nicht.
Klatschend schlägt das Hafenwasser an ein Dutzend Bootsrümpfe der meist australischen Segeljachten. Diesmal ohne Schlauchboot und ganz bequem zu Fuß gehen wir an Land. Aus der nahe gelegenen Beach Bar dröhnt Reggae-Musik. Lautes Gegröle mit unüberhörbar australischem Akzent verrät uns die Meute der Segler aus Down Under. Hand in Hand schlendern wir zu einer der Holzbänke auf der Terrasse, auf der auch zwei der wenigen Frauen sitzen. Die beiden sind Amerikanerinnen. Sie sind Teil einer ausschließlich weiblichen Crew; die anderen haben sich unter das Rudel der Seebären gemischt. Ein kurzer Gruß und wir gehören dazu. Der Abend wird wieder einmal feucht und fröhlich. Irgendwann nickt mir Vladin zu und gibt mir damit unser vereinbartes Zeichen, nach Q zu fragen. Ich frage meine Sitznachbarin Alice, eine kräftige Frau mit grellrot gefärbten Haaren. Sie schüttelt den Kopf. Spontan steht sie auf und gibt meine Frage in die Runde weiter. Ich zähle zweiundzwanzig Leute, von denen aber keiner je etwas von der Insel gehört hat. Ein paar blöde Sprüche über den ungewöhnlichen Namen müssen wir uns dennoch gefallen lassen. Irgendwie finde ich es merkwürdig, dass niemand die Insel kennt, obwohl manche unter den Seglern oft in diesem Revier unterwegs sind, wie sie uns versichern. Selbst die zwei Einheimischen in dem Laden vor wenigen Tagen konnten nichts mit dem Namen anfangen. Gibt es Q überhaupt? Mir kommen Zweifel.
Obwohl wir auch hier mit unserer Suche nicht weitergekommen sind, wird der Abend ausgelassen und die Stimmung steigert sich mit zunehmendem Alkoholkonsum. Irgendwie gefällt mir dieser skurrile Haufen Verrückter. Und zumindest für ein paar Stunden vergessen Vladin und ich unsere fast schon verbissene Suche.
In dieser Nacht finden wir uns neu. Wankend und eng umschlungen gehen wir zurück zu unserem Boot. Beide schauen wir träumerisch in den schwarzen Südhimmel mit seinen so ganz anderen Sternenkonstellationen als über dem heimischen Europa. Vladin reißt mich aus meinen Träumen, als er plötzlich lallt: Wenn ich nicht alles doppelt sehen würde, könnte ich dir jetzt das Kreuz des Südens zeigen. Eines von den beiden da oben ist es. Ich muss laut lachen. Auch ziemlich betrunken versuche ich in einem ganzen Satz zu antworten: Das zeigst du mir morgen! Vladin schaut mich mit rollenden Augen an, zögert und bringt dann eine unschlagbare Logik hervor: Dann ist es aber doch hell.
Obwohl wir beide ziemlich wackelig auf den Beinen sind und der geländerlose Betonsteg unseren Gleichgewichtssinn stark herausfordert, schaffen wir es sicher aufs Schiff. Anstatt nach unten in die Koje zu kriechen, wird das grob zusammengelegte Segel auf dem Kajütdach unser Bett. Vladin schläft sofort ein. Ich lege mich zu ihm und blicke in einen überwältigenden Sternenhimmel. Und mitten in ihm sehe ich es dann doch noch — das Kreuz des Südens.